15.04.2008
Frage von Daniel Röttger:

Sehr geehrter Herr Dr. Niebel,

wir sind eine Wählergemeinschaft aus Berlin Prenzlauer Berg.

Wir möchten Ihnen persönlich und als Mitglied der FDP-Fraktion im BT-Ausschuss Arbeit und Soziales folgende Frage stellen:

Wie kann es eigentlich sein, dass Mitbürger auf ihren selbstverdienten Lohn über 40% Sozialversicherungsbeiträge zahlen müssen, und damit teilweise unter das Existenzminimum gedrückt werden.
Und deshalb allein durch die Zahlungspflicht der SV-Beiträge selbst zu Hartz-IV-Berechtigten werden.

Können Sie uns die Logik dieser Systematik erklären? Denken Sie, dass diese Abgaben auf das Existenzminimum mit dem Grundgesetz vereinbar sind?

Der Vizepräsident des Bundestages, Herr Dr. h.c. Wolfgang Thierse hat freundlicherweise unsere Frage als erster beantwortet. Wir würden gerne auch Ihre Antwort auf unserer homepage www.uwp-berlin.de und www.arm-trotz-arbeit.de für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich machen.

Bitte zögern Sie also nicht, unsere zugegebenermaßen nicht ganz einfache Frage zu beantworten.

Vielen Dank

Daniel Röttger

Geschäftsführer der UWP


17.04.2008
Antwort von Dirk Niebel:

Sehr geehrter Herr Röttger,

die schwarz-rote Koalition hatte im November 2005 angekündigt, die Sozialversicherungsbeiträge unter 40% zu senken. Das ist nur ganz kurz gelungen und wird sich im Juli mit der Erhöhung der Beiträge zur Pflegeversicherung wieder ändern. Lediglich der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung ist gesunken, in den anderen Zweigen der Sozialversicherung sind die Beiträge gestiegen. Und die Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssen mit weiter steigenden Belastungen rechnen. Damit bleibt immer weniger Netto vom Brutto übrig. Genau wie unter Rot-Grün leiden auch unter der sogenannten Großen Koalition vor allem die Menschen in der Mitte der Gesellschaft. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat nachgewiesen, dass mehr und mehr Menschen aus der Mitte ihr Einkommensniveau nicht mehr halten können und in die gesellschaftliche Gruppe mit niedrigeren Einkommen abgedrängt werden. In den letzten 10 Jahren, seitdem die FDP in der Opposition ist, ist das Abstiegsrisiko für die Mitte der Gesellschaft größer als die Aufstiegschance geworden. Die schwarz-rote Bundesregierung hat keine politischen Rezepte gegen diese Entwicklung.

Die sozialen Sicherungssysteme müssen durch mehr Wettbewerb und mehr Freiheit zukunftsfest gemacht werden. Der Staat muss sich auf seine Kernaufgaben konzentrieren. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer, der Ökosteuer und der Versicherungssteuer haben das Leben für alle teurer gemacht. Wir wollen ein niedrigeres, gerechteres und einfacheres Steuersystem. Die Menschen müssen wieder mehr Netto vom Brutto haben.Aus unserer Sicht muss der Staat für ein Mindesteinkommen sorgen, nicht für einen Mindestlohn. Wenn produktionsorientierte Löhne gezahlt werden, die nicht existenzsichernd sind, muss der Staat sie aufstocken. Demjenigen, der arbeitet, muss mehr in der Tasche bleiben als demjenigen, der nicht arbeitet.

Die FDP war die erste Partei, die ein Bürgergeld für Deutschland beschlossen hat, ein Steuer- und Transfersystem aus einem Guß. Alle steuerfinanzierten Sozialtransferleistungen werden gebündelt. Das vereinfacht die Sozialbürokratie und macht das Transferleistungssystem transparenter und fairer. Alle, die arbeitsfähig sind, bekommen das Bürgergeld über die Finanzämter, die es als Negativsteuer berechnet. Bedürftige, die aus eigener Kraft keine Chance haben, ein Einkommen zu erwirtschaften, erhalten es direkt über die Kommunen, diejenigen, die leistungsfähig sind, haben damit den klaren Anreiz, dass ihnen Arbeit ein höheres Netteinkommen einbringt. Die eigene Anstrengung zahlt sich - unabhängig von Familienstand, Anzahl der Kinder und so weiter- aus. Das Bürgergeld stellt ein Mindesteinkommen für jeden sicher, und zugleich schafft es zusätzliche Anreize, durch Arbeit ein höheres Netto-Einkommen zu erzielen. Damit ist es gerechter und wirksamer als jede Mindestlohnregelung.

Die FDP will die Mitte in Deutschland wieder stärken. Wir wollen nach der Bundestagswahl die Politik in Deutschland wieder nach liberalen Vorstellungen mitgestalten. Unter www.deutschlandprogramm.de können Sie bei der Diskussion über unser Deutschlandprogramm 2009 mitmachen.

Mit freundlichen Grüßen

Dirk Niebel


19.04.2008
Frage von Daniel Röttger:

Sehr geehrter Herr Dr. Niebel,

vielen Dank für Ihre prompte Antwort auf meine Frage vom 15.04. Ich stimme Ihnen gern zu, dass die Sozialpolitik/Arbeitsmarktpolitik/Abgabenpolitik in Deutschland wirklich eines neuen Ansatzes bedarf. Ihr Konzept des "liberalen Bürgergeldes" ist schon ein deutlicher Schritt zu diesem "Neuen Denken".

Aber lassen Sie mich auch noch ein oder zwei kritische Äußerungen tun. Das "liberale Bürgergeld" übertrifft in seiner freiheitlichen und marktkonformen Grundanlage bei weitem das Zwangssystem der heutigen Sozialpolitik, (der Agenda 2010 und Hartz-IV). Im Vergleich zum "Bedingungslosen Grundeinkommen" verliert das "liberale Bürgergeld" freilich den Freiheitlichkeits- und Marktwettbewerb.

Vielleicht könnten Sie noch einmal auf meine ursprüngliche Frage eingehen, ob Sie die Sozialversicherungspflichtabgaben vom Existenzminimum (die im Extremfall den Arbeitnehmer durch die SV-Beitragszahlung zum Hartz-IV-Empfänger werden lassen) für grundgesetzkonform halten, besonders mit Blick auf die Artikel 2,3 und 6 GG.
Ich weiß, diese Frage ist delikat – vielleicht kann Sie aber sogar in der programmatischen Entwicklung des liberalen Bürgergeldes wichtig sein. Der Vizepräsident des Bundestages, Herr Dr. h.c. Thierse, hatte sich in seiner Antwort (auf www.arm-trotz-arbeit.de einsehbar) zu dieser Frage ebenfalls eher ausweichend geäußert, mit Hinweis auf die finanzpolitischen und fiskalischen Sachzwänge.

Wenn Sie also diese spezifische Fragestellung noch einmal vertiefen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.

Mit freundlichen Grüßen

Daniel Röttger


21.04.2008
Antwort von Dirk Niebel:

Sehr geehrter Herr Röttger ,

ich überlasse das Verfassungsrecht Experten, die mehr davon verstehen als ich. Die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts steht außerhalb der Parteipolitik. Wenn gesetzliche Regelungen streitig sind und das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungswidrigkeit entscheidet, wie zuletzt bei der Konstruktion von Arbeitsgemeinschaften aus Arbeitsagenturen und Kommunen, beim Luftsicherheitsgesetz und bei den Online-Durchsuchungen, wird der Gesetzgeber damit verpflichtet, entsprechende Änderungen vorzunehmen. Vor allem scheint heute der Schutz der Grundrechte durch das Bundesverfassungsgericht notwendiger denn je zu sein, wie die letzten Urteile im Zusammenhang mit der Terrorgesetzgebung der rot-grünen und der schwarz-roten Koalition zeigen.

Im Gegensatz zum bedingungslosen Grundeinkommen, wobei die Fragen, wer das finanzieren soll, auch gestellt werden muss, ist unser Bürgergeld bedarfsorientiert. Wer in der Lage ist zu arbeiten, soll das auch tun und zu seinem eigenen Lebensunterhalt beitragen. Das gewährleistet Freiheit und Teilhabemöglichkeiten, stärkt die Eigenverantwortung und bietet Potenzial für weitere Beschäftigungschancen, z.B. über eine Qualifizierung am Arbeitsplatz.

Mit freundlichen Grüßen

Dirk Niebel