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SPD überfordert - UWP klagt
Gegen die Belastung des Existenzminimums mit Sozialversicherungsabgaben

Interview mit Daniel Röttger, Vorstandsmitglied der Unabhängigen Wählergemeinschaft Pankow / UWP

Frage: Die Unabhängige Wählergemeinschaft Pankow will vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe gegen das Sozialversicherungssystem klagen. Was wollen Sie damit erreichen?

Röttger: Wir wollen nicht gegen das Sozialversicherungssystem klagen, sondern gegen dessen Finanzierungs-Modalitäten, die nicht mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik vereinbar sind.
Das Sozialversicherungssystem hat eigentlich die Aufgabe, die gesellschaftliche Solidarität und die Absicherung der großen Lebensrisiken (Alter, Krankheit und Erwerbslosigkeit) abzusichern. Es ist ein großer sozialer Fortschritt und seine Einführung vor 130 Jahren hat wesentlich zum gesellschaftlichen und ökonomischen Erfolg Deutschlands vom Kaiserreich bis ins 21. Jahrhundert beigetragen.

Frage: Also wogegen wollen Sie dann klagen?

Röttger: Es muss in einer sozialen und marktwirtschaftlich organisierten Demokratie grundsätzlich so sein, dass man erst für sich und seine Familie das Existenzminimum erwirtschaftet - und anschließend (!) darf der Staat Abgaben einfordern. Sonst kann es zu Entwicklungen kommen, wie wir sie heute in der Bundesrepublik beklagen müssen: Menschen arbeiten Vollzeit - aber weil sowohl der gesetzliche Mindestlohn, wie auch eine gerechte Abgabenstruktur fehlen, erzielen viele Mitbürger (mittlerweile über 1 Million) Erwerbseinkommen, die zum Teil weit unter Sozialhilfeniveau liegen. Das stellt einen systematischen Sprengsatz für unsere Gesellschaft dar - und die SPD muss sich schämen, diesen Wahnsinn mit ihrer grenzdebilen "Arbeitsmarktgesetzgebung" Hartz-IV in die Welt gesetzt zu haben.

(Anmerkung: Das Bundesverfassungsgericht hat schon im Jahr 1992 die grundsätzliche Freistellung des Existenzminimums für den Arbeitnehmer und seine Familie für verbindlich im Steuerrecht erklärt.) (Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1992 zu Grundfreibeträgen)

Natürlich gilt dieser vom Bundesverfassungsgericht formulierte Grundsatz in der Logik des Grundgesetzes ebenso für das Sozialversicherungssystem. Der Gesetzgeber (sowohl in Zeiten der Regierung Kohl und der Regierung Schröder, aber auch die momentane Koalition ist handlungsunwillig) hat den impliziten Auftrag des Verfassungsgerichts (die Freistellung des Existenzminimums) jedoch nicht nur nicht erfüllt, sondern sogar aktiv dagegengearbeitet. Das sieht man ganz eindeutig an der Höhe der Sozialversicherungsbeiträge: Im Jahr 1990 bei 35%, im Jahr 1998 bei 42% (diese 7 Punkte SV-Beiträge entsprechen heute gut 70 Mrd. Euro). Die Politik hat es sich leicht gemacht, indem sie die vom Gericht verfügten steuerlichen Milliarden-Freistellungen für alle Bundesbürger einfach im SV-System gegenfinanziert hat - das ist politischer Betrug und verfassungsrechtlich mehr als unanständig - weil im SV-System speziell die Klein- und Mittelverdiener und die Familien doppelt getroffen werden - während die Erleichterungen im Steuersystem eher den Gutverdienern zu Gute kamen.

(Anmerkung: Seit 11 Jahren ist eine Klage gegen die Gesetzliche Rentenversicherung anhängig, die indirekt auf die Frage des (Kinder-)Existenzminimums Bezug nimmt. Nach 6! Jahren beschied das Sozialgericht (Pressemitteilung Sozialrichter Jürgen Borchert), dass nicht die Rentenversicherung, sondern die Krankenversicherung als SV-Beitrags-Einzugsstelle beklagt werden müsste. Und im Jahr 2006 beschied dann das Bundessozialgericht, bei dem die Klage irgendwann ankam, dass Eltern mit mehreren Kindern sich eines sozialschädigenden Verhaltens schuldig machten, indem sie Kinder großziehen.) Urteil des Bundessozialgerichts zum generativen Beitrag der Kindererziehung in der Rentenversicherung, Juli 2006
(PDF-Dokument)

Frage: Das klingt ziemlich unglaublich. Es ist ja eine vielbemühte Behauptung, dass die sozialen Kosten der deutschen Einheit großteils über das SV-System finanziert wurden - aber Sie meinen, die vom Verfassungsgericht erzwungenen steuerlichen Erleichterungen für alle wurden gezielt den Sozialversicherungspflichtigen - und besonders auch den kinderreichen Familien - aufgebürdet?

Röttger: Ob gezielt oder nicht, wage ich bei der Qualität der politisch Handelnden gar nicht mehr zu beurteilen. Im Effekt jedenfalls kann das anhand der Entwicklung der SV-Beiträge (Entwicklung der SV-Beiträge ab den 70er Jahren(PDF-Dokument)) kaum anders interpretiert werden.

Frage: Was bedeutet das denn jetzt für die Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme?

Röttger: Die Idee der gesellschaftlichen Solidarität ist natürlich weiterhin eine zentrale Voraussetzung einer modernen demokratischen Gesellschaft. Aber die heute angewendeten Finanzierungsstrukturen des Sozialversicherungssystems sind bei weitem nicht mehr so modern wie die zugrunde liegende große Idee. Im fälschlicherweise oft schlechtgeredeten Steuersystem gilt ausdrücklich die Freistellung des Existenzminimums von Belastungen. Und gerade das "solidarische" Sozialversicherungssystem entzieht den Geringverdienern einen Teil ihrer existenziellen Lebensgrundlage - da passen Vorstellung und Wirklichkeit wirklich nicht zusammen.
Den Menschen wegzunehmen, was sie selber erarbeitet haben, um ihnen anschließend genau die gleiche Summe als "Sozialtransfer" zurückzugeben, ist ein gesellschaftliches Kuckucksei: ökonomisch unsinnig und verfassungswidrig.

Frage: Sie meinen also, Idee und Umsetzung sind nicht dasselbe?

Röttger: Ganz offensichtlich nicht! In der Bundesrepublik folgen wir seit den 50er Jahren der Theorie der "Sozialen Marktwirtschaft". Ludwig Erhard hat als Motto für diese Wirtschaftsform das populäre "Wohlstand für alle" formuliert. Dieses Motto folgt auch der Erkenntnis, dass breitgestreuter gesellschaftlicher Wohlstand stabilisierend auf Gesellschaft und Demokratie wirkt. Seit aber nunmehr 20 Jahren haben wir in der Bundesrepublik diese Politikgrundsätze verlassen: Das gesellschaftlich erwirtschaftete Volkseinkommen wird auf immer weniger Mitbürger konzentriert. Da diese Mitbürger das viele Geld gar nicht ausgeben können, trocknet der deutsche Binnenmarkt seit 20 Jahren kontinuierlich aus. Da auch der Staat das vermehrte Volkseinkommen nicht abfragt (als Steuern oder Verschuldung bei seinen Bürgern), ist ein Großteil des konzentrierten Kapitals ins internationale Finanzkasino geflossen. Pro Jahr zwischen 200 bis 250 Mrd. Euro. Davon konnte in den USA und in Großbritannien eine große Party gefeiert werden. Zur gleichen Zeit haben die deutschen Arbeitnehmer, die dieses Volkseinkommen erwirtschaftet haben, immer geringeren Anteil an diesem Reichtum. Im Gegenteil hat sich die Verarmung der deutschen Gesellschaft in den vergangenen Jahren rasant beschleunigt (OECD-Studie).

Frage: Aber Rot-Grün ist doch 1998 auch ausdrücklich angetreten, um diese Entwicklung umzukehren.

Röttger: Das stimmt. Darum war die rot-grüne Regierung ja auch jeweils schockiert über die Armutsberichte aus den eigenen Ministerien. Gehandelt wurde jedoch nicht. Psychologisch deute ich die gesellschaftiche Verarmungspolitik des "Kanzlers der Bosse" (und der "Regierung der Bosse") als "Identifikation mit dem Aggressor". Die aus kleinsten und wirtschaftlich armseligsten Verhältnissen stammenden Gerhard Schröder und Joschka Fischer waren wie auf Droge, als sie endlich mit den von ihnen bekämpften "Eliten" und Bossen reden durften. Das Ergebnis ihrer neurotischen Besoffenheit waren Gesetze, mit denen die beiden genannten Akteure sich Liebkind machen wollten - mit denen sie aber gleichzeitig die "Soziale Marktwirtschaft" aufkündigten. Helmut Kohl leitete mit der verfassungswidrigen (s.o.) und ökonomisch total verrückten Erhöhung der SV-Beitragssätze die Entwicklung ein - aber Gerd und Joschka haben das Werk dann zum Ende gebracht. Mittlerweile herrscht staatlich organisierter Arbeitszwang bei staatlich organisierten Niedrigstlöhnen. Das ganze kann man nur als "Anti-Soziale Anti-Marktwirtschaft" bezeichnen.

Frage: Ist denn die Große Koalition ein Hoffnungsfunken?

Röttger: Ich würde es ja wünschen - aber wenn man die Vertreter der Koalition sieht und hört, stockt einem ja auch nur noch der Atem. Was sind das für Konzepte, die Staatskrise anzugehen? Herr Kauder (CDU-Bundestagsfraktionsvorsitzender) möchte Straßen bauen lassen (das hatten wir ja schon einmal), während die Erbschaftssteuer in der CDU und CSU am liebsten abgeschafft werden sollte. Gleichzeitig tricksen die Ministerialbürokratien, um die elende Situation im Bildungs- und Arbeitsmarkt zu beschönigen. Von den asozialen Absurditäten im Krankenversicherungssektor, wo sich die Besserverdienenden ganz legal aus der gesamtgesellschaftlichen Solidarität raushalten können, einmal ganz zu schweigen.

Frage: Wieso ist es so schwer, das Sozialversicherungssystem in eine moderne und sinnvolle Richtung zu verändern?

Röttger: Die Organisationsprinzipien des Sozialversicherungssystems sind über 120 Jahre alt und entstammen dem Bewusstseinszustand einer feudalistischen Gesellschaft. Da kann man eigentlich kaum erwarten, dass moderne Grundsätze eines demokratischen Staates mit diesem System gut erreicht werden. Aber 120 Jahre hinterlassen sozialpsychologische Überzeugungen, die nur schwer zu erschüttern sind. Im Neudeutsch könnte man von einer sehr gut eingeführten Marke sprechen.

Frage: Können Sie ein Beispiel für Ihre These benennen?

Röttger: Am Beispiel der Krankenversicherung lässt sich relativ leicht nachvollziehen, wie die Strukturen der Kaiserzeit in unserer Zeit nachwirken. Die gesetzliche Krankenversicherung bedeutete im 19. Jahrhundert eine deutliche Verbesserung des Gesundheitsschutzes der breiten Bevölkerungsmehrheit. Die reichen Bürger und der Adel wurden damals von der Versicherungspflicht befreit, da sie sich eine Versicherung auf dem privaten Versicherungsmarkt kaufen konnten.

Frage: Das ist doch heute genauso. Und was soll daran schlecht sein?

Röttger: Die Frage ist einfach, ob wir eine Zweiklassengesellschaft haben wollen wie im 19. Jahrhundert - oder eben nicht:
Im 19. Jahrhundert wollten Adel und Bürgertum nicht mit den ärmeren Schichten solidarisch sein. Daraus hat sich das duale System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der Privaten Krankenversicherung (PKV) entwickelt. PKV für den Adel, GKV für das Volk.
Heute trennt die PKV die Bevölkerung nicht mehr nach dem gesellschaftlichen Stand, sondern nach den Kriterien Einkommen (Versicherungspflichtgrenze), Gesundheitszustand (Ablehnung Kranker in der Privaten Krankenversicherung) und dem Beschäftigungsverhältnis (angestellt oder selbständig).
Das Prinzip der gesetzlich festgeschriebenen Trennung der Bevölkerung mit freier Wahlmöglichkeit der Bessergestellten ist aber unverändert.

Fr: Aber geht es hier nicht auch um die Freiheit jedes einzelnen, seine Lebensumstände, inklusive Versicherung und Rente selbst bestimmen zu können?

Röttger: Das stimmt, und im Rahmen des Grundgsetzes soll das ja auch für jeden möglich sein. Aber das Grundgesetz sagt in Artikel 3 GG ebenfalls eindeutig, dass alle Menschen "vor dem Gesetz gleich" sind. Art.3(3)GG besagt: "Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Dieses Diskriminierungsverbot ist sehr weit gefasst und gilt natürlich für die staatlich organisierten Institutionen, aber ebenso auch in der Privatwirtschaft.
Die Private Krankenversicherung (PKV) hat eine hochdiskriminierende Geschäftsgrundlage, die den oben zitierten Forderungen des Grundgesetzes nicht genügt.
Sie bietet einer privilegierten Bevölkerungsminderheit von zur Zeit 8 Millionen Mitbürgern für geringere Beiträge eine bessere Krankenversorgung - alle anderen sind durch Gesetz ausgeschlossen - einige wenige wählen teilweise aus solidarischen Überlegungen das für sie teurere und medizinisch schlechtere Verbleiben in der Gesetzlichen Krankenversicherung.
Diese sozialversicherungsrechtlichen Regelungen aus dem 19.Jahrhundet sind eindeutig nicht konform mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Sie zwingen 90% der Bevölkerung, im Rahmen der Gesetzlichen KV für teilweise wesentlich mehr Geld eine wesentlich schlechtere materielle Leistung zu erstehen.
Und es ist schon beschämend, wie Teile der Politik und der Ärzteschaft gerade jetzt wieder für diese systematische Grundgesetzverletzung gekämpft haben, wenn ich das einmal als Arzt sagen darf.

Frage: Also wollen Sie hauptsächlich das Bestehen der Privaten Krankenversicherungen beklagen?

Röttger: Nein, aber im Krankenversicherungssystem zeigt sich die verkorkste Realität besonders deutlich: Die 90% gesetzlich Versicherten bezahlen mit ihren Beiträgen, die auch aus dem Existenzminimum erhoben werden, die Infrastruktur des Gesundheitssystems. Die "privat" Krankenversicherten nutzen diese Infrastruktur, ohne sich daran anteilig angemessen zu beteiligen. Wenn die Privaten Krankenversicherungen ein flächendeckendes privates Krankenversorgungssystem unterhalten müssten, dann wären ihre Beiträge nicht geringer, sondern etwa dreimal so hoch wie im Gesetzlichen Krankenversicherungssystem. Hier ist der Gedanke der Solidarität auf den Kopf gestellt: Die Ärmeren finanzieren den Bessergestellten die geringen Versicherungskosten.

Frage: Ist das nicht eine typisch deutsche Neiddebatte?

Röttger: Keinesfalls, es geht hier um die systematische ökonomische Benachteiligung der breiten Bevölkerungsmehrheit und nicht darum, ob der Nachbar ein größeres Auto fährt. Der Gipfel der Dreistigkeit ist, dass der Verband der Privaten Krankenversicherungen noch im Jahr 2007 gegen die ganz geringe Reduktion der Geschäftsprivilegien der Privaten Krankenversicherungen vor dem Verfassungsgericht klagen will.
Dieses Beispiel zeigt, dass ein demokratischer Rechtsstaat die Überbleibsel ständestaatlicher Strukturen auch einmal hinterfragen muss, wenn er nicht seine Glaubwürdigkeit ernsthaft riskieren möchte. Es kann nicht sein, dass die sehr gut organisierte Lobbyarbeit der Privaten Krankenversicherungen erst im Parlament und dann auch noch vor dem Verfassungsgericht obsiegt. Wegen mangelnder Sachkenntnis der Richter könnte dies aber durchaus passieren.

Frage: Denken Sie denn nicht, dass die Sozialreformen der vergangenen Jahre in eine gute Richtung weisen?

Röttger: Nur sehr begrenzt. Wir sind davon überzeugt, dass die Grundlagen unserer Verfassung viel stärker im politischen Alltagsgeschäft berücksichtigt werden müssen. Viele Menschen haben den Eindruck, dass den Politikern oft die intellektuelle und gesellschaftliche Zielvorstellung fehlt. Und es ist bedauerlich, dass die im Bundestag vertretenen Parteien so oft auf die juristische Hilfe und Korrektur durch das Verfassungsgericht angewiesen sind.
Die deutsche Politik wird die Gesetzliche Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung einer ebensolchen Überprüfung unterziehen müssen, um ihre Verfassungsmäßigkeit, aber auch ihre Funktionalität in der globalen Wirtschaft zu sichern. Das muss aber eben nicht bedeuten, dass sich die Bundesrepublik an den sozialen Standards der zweiten und dritten Welt orientieren soll, wie heutzutage im politischen Diskurs oft suggeriert wird.

Frage: Die SPD propagiert seit Anfang 2007 in ihrer "Bremer Erklärung" die weitgehende Freistellung des Existenzminimums von Sozialabgaben für Geringverdiener. Ist das nicht genau Ihre Forderung?

Röttger: Die UWP hält die Belastung des Existenzminimums bei allen Beschäftigten, Selbständigen wie auch Angestellten, für verfassungswidrig - und außerdem auch für volkswirtschaftlich schädlich. Der Vorschlag der SPD geht in die richtige Richtung, greift aber zu kurz. Auch eine positive Diskriminierung bedeutet immer auch die negative Diskriminierung der nicht betroffenen Gruppen und zieht unerwünschte wirtschaftliche Reaktionen nach sich. Viele Genossen von der SPD haben wahrscheinlich noch nie verstanden, dass Markt etwas mit fairen und gleichen Rahmenbedingungen zu tun hat. Aber die Damen und Herren von der CDU verstehen das ja offensichtlich genau so wenig.

Frage: Die einzig sinnvolle und juristisch saubere Lösung ist aus ihrer Sicht also eine gleiche ökonomische Behandlung aller Bundesbürger in Bezug auf ihr Existenzminimum.

Röttger: Genau so ist es. So verlangt es das Grundgesetz und nur so vermeidet man einen Wettbewerb um die stärkste Lohndrückerei, wie sie in Form von Mini-, Midi- und 1-Eurojobs, Kombilöhnen, Scheinselbständigkeit und Leiharbeit zur Zeit gesetzlich gefördert wird. Die in Deutschland extrem hohen Zahlen der Schwarzarbeit und Massenarbeitslosigkeit sind die Quittung für die völlig verfehlte Steuer- und Abgabenbelastung in der Bundesrepublik.
Die Verteuerung der geringentlohnten Arbeit hierzulande durch Sozialabgaben ist ein von der Politik zu verantwortendes Arbeitsplatzvernichtungsprogramm.

Frage: Wie sehen Sie Ihre Chancen vor dem Verfassungsgericht?

Röttger: Wo kein Kläger da kein Richter - und uns erstaunt selbst, dass es auf die kritischen Äußerungen des Verfassungsgerichtspräsidenten Prof. Dr. Papier im Juli 2006 bisher keine Reaktion politischer Parteien oder Institutionen gegeben hat.
Herr Prof. Dr. Papier hatte tatsächlich in einem Interview mit der WELT die Verfassungsmäßigkeit des Sozialversicherungssystems öffentlich angezweifelt. Mehr kann von einem obersten Bundesrichter nicht erwartet werden. Er kann schließlich nicht selbst Klage einreichen, um dann darüber zu entscheiden. Wir nehmen Herrn Prof. Dr. Papier ernst und übernehmen jetzt die Rolle des Klägers vor seinem Gericht. Die Erfolgswahrscheinlichkeit schätzen wir sehr hoch ein.

Frage: Und können Sie etwas über die ökonomischen Folgen sagen, falls Ihre Klage Erfolg haben sollte.

Röttger: Im Ergebnis hätte jeder abhängig Beschäftigte, der mindestens 800 Euro/Monat Nettolohn erreicht, etwa 4000 Euro Jahreslohn zusätzlich zur realen Verfügung, indem den Arbeitnehmern für die ersten selbstverdienten 1000 Euro sowohl die Arbeitnehmer- wie die Arbeitgeberbeiträge (ca. 420 Euro/Monat) zur Sozialversicherung ausgezahlt werden, die dann allerdings mit dem individuellen Steuersatz (von 0% bis 42%) versteuert werden müssten.

Frage: Aber es müssten insgesamt etwa 100 Milliarden Euro für Rente, Gesundheitsausgaben, Arbeitslosenversicherung und Pflegeversicherung anders finanziert werden als bisher. Wie soll das funktionieren?

Röttger: Bisher kassiert der Staat diese 100 Milliarden Euro durch die verfassungswidrigen Sozialversicherungsbeiträge auf die Existenzminima der abhängig Beschäftigten. Es ist unhaltbar, wenn ein Arbeitnehmer wegen seiner Sozialversicherungspflicht aus 1500 Euro Gesamtbruttolohn nur 1000 Euro behalten darf, egal ob er noch Frau und Kinder zu versorgen hat. Natürlich ist auch eine verfassungskonforme Finanzierung der Sozialversicherung denkbar, es ist nur etwas mühsamer als das bequeme aber dumme weiter so. Und es besteht in der Bundesrepublik eigentlich seit Jahrzehnten ein weitgehender Konsens, dass die Arbeitslöhne von Sozialabgaben entlastet werden sollten damit die Arbeitslosigkeit im niedrigen Lohnsektor sinken soll - nur geschehen ist das nicht.

Frage: Und was schlagen Sie nun vor?

Röttger: Es bleibt also realistisch betrachtet nur das Steuersystem zur Gegenfinanzierung, und hier eher die Konsum- als die Lohnbesteuerung. Das Steuersystem ist viel moderner und sozialer als das Sozialversicherungssystem und ermöglicht sinnvolle Steuerungen der Volkswirtschaft. Allein die an den gesellschaftlichen Kosten orientierte Besteuerung des Alkoholkonsums könnte leicht über 30 Milliarden Euro zusätzlich einbringen mittels einer Verzehnfachung der Alkoholsteuer von 3,4 auf 35 Milliarden Euro. Die gesellschaftlichen Kosten des Alkohols, sie werden je nach Berechnungsansatz mit 30 bis 90 Milliarden Euro/Jahr angegeben, sind dann immer noch deutlich höher als die steuerlichen Einnahmen durch die Alkoholbesteuerung. Und lassen Sie uns nur an die externen Kosten (Klima, Gesundheit u.a.) des Autoverkehrs, des Rauchens und des Flugverkehrs erinnern, die momentan von der Allgemeinheit über das Steuer- und Sozialversicherungssystem gegenfinanziert werden.

Frage: Sie sagten, die bei den Arbeitnehmern verbleibenden Sozialversicherungsbeiträge (Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge) wären dann lohnsteuerpflichtig?

Röttger: Das ist logisch. Die Lohnbesteuerung der bei den Arbeitnehmern verbleibenden 100 Milliarden Euro erbrächte etwa weitere 25 Milliarden Euro Steuereinnahmen. Und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf skandinavisches Niveau brächte weitere 20-40 Milliarden Euro. Aber das Steuersystem ist flexibel und ermöglicht viele sinnvolle Gegenfinanzierungen zum Ausgleich der generellen Entlastung des Existenzminimums für alle Bundesbürger.

Frage: Wäre das nicht ein schlechter Tag für die deutschen Biertrinker und Autofahrer?

Röttger: Nur oberflächlich betrachtet. Die Flasche Bier würde dann etwa 70 Cent bis 1 Euro Ladenpreis kosten. Aber das könnte man sich von den 3000 bis 4000 Euro zusätzlichem Nettojahreslohn gerade noch so leisten.

Frage: Finanzminister Peer Steinbrück sieht das anders. Er hat ja gerade die Mindestbesteuerung des Alkohols in der EU erfolgreich gegen 25 Länder torpediert.

Röttger: Das stimmt, er ist eindimensional auf das Steuersystem fixiert und nimmt die Folgekosten für "seine" nur scheinbar ertragreichen Steuerprodukte (Alkohol, Tabak, Auto-/Luftverkehr), nicht zur Kenntnis.
Die Gegenfinanzierung dieser Folgekosten von mindestens 100 Mrd. Euro werden überwiegend durch das Sozialversicherungssystem getragen, wofür dieses aber wirklich nicht geschaffen wurde. Für einen Finanzminister ist das zwar formal korrekt, aber als politischer Ansatz ist das absolut töricht - und der Minister ist damit ein Teil des beschriebenen Problems. Man kann darüber reden, die Arbeit in Deutschland von ihrer sozialversicherungsbedingten Verteuerung zu befreien - oder man kann es tun. Unsere Politiker haben in den letzten Jahrzehnten mehr geredet und angekündigt...

Frage: Und Hartz IV?

Röttger: ... und mit den Hartz-Gesetzen einen zusätzlichen Bock geschossen, mit dem die bewährten Grundprinzipien einer freien und demokratischen Gesellschaft teilweise außer Kraft gesetzt werden. Das häufig zitierte Fordern der Agenda 2010 ist oft eine pure Erpressung und das Fördern erschöpft sich in wohlfeilen Durchhalteparolen.

Frage: Das Absinken der Arbeitslosenzahlen ist also nicht unbedingt Folge der Agenda 2010?

Röttger: Ich denke, diese Interpretation ist wirklich eine unzulässige Verkürzung. Es gibt eine Faustformel in der Volkswirtschaft, die besagt, dass jedes Prozent Senkung der Sozialversicherungsabgaben eine positive Beschäftigungswirkung von 100.000 Arbeitsplätzen erbringt. Die dreiprozentige Mehrwertssteuererhöhung wurde leider nur teilweise zur Senkung der Sozialabgaben eingesetzt - man hätte mit diesen Steuereinnahmen die Sozialabgaben um vier Prozent auf deutlich unter 38% senken können. Ich denke, die Zeit des Dilettierens ist vorbei. Wenn es CDU und SPD auch in der Großen Koalition nicht gelingt, einen klaren Gedanken zu fassen und umzusetzen, dann müssen die Anstöße aus der Bevölkerung kommen.
Wir haben in Deutschland eine sehr gute Verfassung - und ein sehr gutes Verfassungsgericht. Jetzt fehlt eigentlich nur noch eine professionell vorgetragene Vefassungsbeschwerde, um dieser Verfassung Geltung zu verschaffen und um die Politiker noch mehr in ihrem Tun zu fordern und zu fördern.
Und diese Klage wird die UWP mithelfen zu organisieren.



Es gibt drei Möglichkeiten, wie das Existenzminimum des einzelnen vom Staat ökonomisch behandelt werden kann.
Negativ: Zur Zeit belastet die Bundesrepublik Deutschland das Existenzminimum eines Teils ihrer Bürger mit Zwangsabgaben, ein größerer Teil der Bürger muss diese Abgaben nicht leisten.
Neutral: Die Verfassungsbeschwerde der UWP zielt darauf, für alle Bundesbürger eine generelle Befreiung des Existenzminimums von staatlichen Pflichtabgaben zu erreichen.
Positiv: Der Vorschlag, jedem Bundesbürger, ob Arbeitsloser oder Millionär, das Existenzminimum vom Staat nicht nur unangetastet zu lassen, sondern es jedem/r Bürger/in real jeden Monat auszuzahlen, ist die dritte Möglichkeit.
Götz Werner ist seit einigen Jahren einer der eifrigsten Verfechter dieses "Dritten Weges". Warum?

Götz Werner über das Bedingungslose Grundeinkommen

Interview, 02.11.2006, 06:47 Uhr Geniale Idee oder Utopie?

Stellen Sie sich mal vor: für ihr Einkommen wäre gesorgt - was würden Sie dann tun? Klingt utopisch, aber in der Wissenschaft und in politischen Hinterzimmern wird genau darüber nachgedacht. Über das bedingungslose Einkommen. Ein Unternehmer bekennt sich offen zu dieser Idee. Alexander Krahe sprach mit dem Chef der Drogeriemarktkette dm, Götz Werner.

Das Interview im Wortlaut:

Krahe: 1500 Euro für jeden, jeden Monat, egal ob er oder sie zu Hause auf dem Sofa sitzt und nichts tut, oder ob derjenige hart arbeitet. Wie kommt ein Unternehmer dazu, ein solches Modell zu unterstützen?

Werner: Einfach aus der Wahrnehmung und der Erkenntnis wie unsere Verhältnisse heute sind und dass wir mit den Rahmenbedingungen, die wir haben, eigentlich die Realität nicht meistern können. Wir sind in der Situation, dass wir mit der Gestaltung unserer Sozialität mit dem Latein etwas am Ende sind, und dass wir Methoden brauchen, um die heutigen Probleme und die der Zukunft meistern zu können. Diese Methode wäre die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens in Verbindung mit der Ausgabenbesteuerung.

Krahe: Nun haben wir alle gelernt - und wahrscheinlich ist es auch ein Prozess der vergangenen 500 Jahre - dass man eigentlich sagt, Leistung muss belohnt werden. Und dann gibt es noch den Fall von Menschen, die unverschuldet in Not kommen, die haben ein Recht auf staatliche Fürsorge. Sie verlangen hier etwas ganz anderes. Warum muss man davon wegkommen?

Werner: Leistung wird immer belohnt und wird auch immer belohnt werden. Nur ist die Frage, wie wir es fertig bringen, dass wir jeden Bürger in unserer Gesellschaft eine Teilhabe gewähren, damit er teilnehmen kann. Und genau das ist die Aufgabe des bedingungslosen Grundeinkommens, bei dem die heute bestehenden Transfersysteme zusammengelegt werden. Dann kann jeder frei von grundlegenden Existenzsorgen als freier Bürger tätig werden und die Arbeit erledigen, die ihm zugleich sinnvoll erscheint.

Krahe: Ist Ihre Idee auch eine gute Idee für Unternehmen?

Werner: Unbedingt, weil wenn wir Verhältnisse schaffen, wo wir besser miteinander füreinander leisten können in sozialer Sicherheit, in Würde und nach eigener Wahl, umso besser können wir die gesellschaftliche Wertschöpfung vorantreiben.

Krahe: Werden Sie auch motivierte Mitarbeiter bekommen, wenn die Menschen gar nicht mehr unbedingt darauf angewiesen sind zu arbeiten, weil Geld bekommen die ja so oder so?

Werner: Sie haben immer dann motivierte Mitarbeiter, wenn sie interessante Arbeitsplätze schaffen. Arbeitsplätze schaffen, wo jeder sich einbringen kann, aus seiner eigenen Intention, aus seinen Fähigkeiten heraus. Dann wird man motivierte Mitarbeiter haben. Gerade als Unternehmer muss man ja schauen, dass die Mitarbeiter in jeder Hinsicht motiviert sind, dass sie sozusagen den Sinn ihrer Arbeit sehen, dass sie auf Sinnsuche sind in ihrer Arbeit. Und den Sinn können Sie immer nur an Mitmenschen entdecken.

Krahe: Wie lässt sich verhindern, dass dieses bedingungslose Grundeinkommen durch ausufernde Steuererhöhungen finanziert werden muss? Das ist ganz klar eine Sorge, dass es einfach zu teuer wird.

Werner: Nein, das bedingungslose Grundeinkommen ist ja schon bezahlt, die ganzen Geldströme fließen ja schon. Es ist nur eine Frage, wie wir das neu denken und neu zuordnen. Wir sind in einer Situation, dass wir noch nie so viel Güter und Dienstleistungen produzieren konnten wie heute. Wir leben ja im Überfluss, aber wir rechnen uns arm, das ist das Problem.

Krahe: Ich denke jetzt mal an den Einheitssteuersatz, wie Paul Kirchhoff ihn verfochten hat, auch eine interessante Idee. Oder die Gesundheitsprämie - neue Dinge, die vielleicht nicht ganz so leicht zu vermitteln sind. Haben Sie nicht Angst, dass Ihre Idee vom bedingungslosen Grundeinkommen im Meinungsbildungsprozess zerrieben wird, dass am Ende nichts davon bleibt?

Werner: Ja, das ist immer die Frage, inwieweit eine Gesellschaft in der Lage ist, Neues zu denken und zu bewerten. Wenn die Gesellschaft es kann, dann kann sie sich auch Neuem zuwenden, wenn sie das nicht kann, wird sie beim Alten bleiben. Die Frage ist, ob die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens eine Idee ist, die epidemisch wird. Wenn sie epidemisch wird, wenn sie von möglichst vielen Bürgern gedacht werden kann, dann wird sie auch realisierbar. Wenn sie nicht gedacht werden kann, dann wird sie nicht realisierbar sein.

Krahe: Wir müssen unser Denken ändern. Was hat denn bei Ihnen persönlich das Umdenken ausgelöst?

Werner: Ich habe vor 33 Jahren bei Null angefangen, und ich habe erlebt, was es heißt, in den heutigen Rahmenbedingungen tätig zu werden füreinander. Wirtschaft ist ja das füreinander tätig werden. Und was da für Behinderungen da sind. Und dass die Behinderungen daher kommen, dass wir mit alten Systemen die heutige Situation meistern wollen. Aber wir können nicht das Neue angehen, wenn wir mit alten Methoden, die ja die Probleme hervorgebracht haben, das Neue verwirklichen wollen. Da müssen wir umdenken. Da muss ein gesellschaftlicher Diskurs stattfinden, den in erster Linie die Medien zu bewältigen haben, zumindest anzuregen haben.

Krahe: Sie sagen, dieses Grundeinkommen könnte so etwas wie ein Befreiungsschlag sein?

Werner: Ja, durch das Grundeinkommen würden viele gemeinwirtschaftliche und kulturelle Arbeitsaufgaben plötzlich finanzierbar werden, viele Initiativen würden entstehen, viele Menschen würden den Sinn in ihrer Arbeit wieder entdecken. Niemandem ist ja verwehrt, über das bedingungslose Grundeinkommen hinaus tätig zu werden und weiteres Einkommen zu erzielen. Nur der Zwang würde wegfallen. Was wir gesellschaftlich anstreben müssen, ist die Wendung vom Müssen und Sollen zum Wollen. Und stellen Sie sich einmal vor, die Menschen würden alle das machen, wo sie selbst einen Sinn drin erkennen, dann hätten wir ein ganz anderes soziales Klima.

© 2005 Rundfunk Berlin-Brandenburg


Riester-Rente:
Sparen fürs Sozialamt:
ARD-Monitor: Arm trotz Riester: Sparen fürs Sozialamt
Subventionen für Versicherungskonzerne:
ARD Monitor, Mai 2008
Ist Vollbeschäftigung möglich?
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ARD-Monitor Beitrag:
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soziale Gerechtigkeit
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Sendung im Deutschlandfunk vom 20.01.2008:
Beitrag 32,
Thema Leistungsgerechtigkeit: Essay und Diskurs